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Sonntag, 08. April 2018

Hashtag Kiepenkerl

Krisenkommunikation in Segmenten und Layern: Wer hört was über welchen Kanal?
Vielfach geteilt am 7. April: die Grafik von Münster4Life (C) MS4L.

Mich erwischte es beim Rosenschneiden am ersten warmen, sonnigen Frühlingstag um etwa Viertel vor vier. Meine Tochter: „Meine Freundin ist in der Stadt. Am Kiepenkerl ist gerade ein Bulli in die Menschen gefahren.“ Dazu das erste Bild per WhatsApp. Die ersten weiteren Nachrichten im Laufe der nächsten 20 Minuten liefert sie ebenfalls über Freunde und Bekannte auf demselben Kanal. Schock, Unsicherheit. Was ist da passiert? 

In kurzer Zeit schießen bei Twitter, Infomedium meiner Wahl in solchen Situationen, die Spekulationen ins Kraut. Verschwörungstheorien, Hass und Häme aus der rechtextremen Ecke, die Blicke in abgrundtief schwarze Seelen zulassen: Von „Danke Angela Merkel!“ bis zum platten „Ausländer raus! #Münster #Kiepenkerl“. Eine der meist diskutierten Protagonistinnen, zynisch und mit bemerkenswert kurzer Reaktionszeit auf das Geschehen, kommt von der AfD.

Die Polizei mahnt über Twitter alle zehn Minuten zur Besonnenheit und bittet, Spekulationen und Gerüchte streuen zu unterlassen. Immer mit dem Zusatz „Wir informieren euch hier“ oder „Wir sind für euch vor Ort“. Wohltuend, dort hat die Krisenkommunikation viel dazugelernt in den letzten Jahren. Die Bitte abzuwarten nutzt sich allerdings deutlich ab, als erste Medien längst Einzelheiten berichten und sich die Lagebeschreibungen verdichten, während die Polizei weiter zu Details schweigt. Die offizielle Pressemitteilung von Polizei und Staatsanwalt läuft um 3.11 Uhr des Folgetags über presseportal.de.

In den ersten 2,5 Stunden nach dem Vorfall treffen auf all meinen Kanälen: WhatsApp, Instagram-Messenger, E-Mail und Telefon besorgte Nachfragen von Freunden ein – aus der gesamten Bundesrepublik, aus Spanien, der Schweiz, England und sogar Bolivien. So schnell geht die Nachricht um die Welt. Der Freund meiner Tochter googelt Hintergründe und macht sich sein Bild laufend über Twitter, das in dieser Dichte den besten und vollständigsten Überblick über Veränderungen und Entwicklungen liefert und außerdem ein klares Bild, wo qualitätvolle Berichterstattung stattfindet. Die Spreu trennt sich deutlich vom Weizen, wobei sich auch einige der großen Medien deutlich vergaloppieren. 

Lange ist noch von vier statt drei Toten die Rede. Auch dass es sich mitnichten um die Tat eines Islamisten handelt, tritt in der Berichterstattung erst zurück, als die Polizei die Wohnung des mutmaßlichen Täters durchsucht. Die lokale Zeitung und die Süddeutsche berichten im Livestream. Der Lokalfunk textet „durchsucht“, die Zeitung titelt „stürmt“ – die Bereitschaft zum Drama ist durchaus unterschiedlich ausgeprägt.

Unsere Jüngste mit ihren 13 Jahren erlebt eher die emotionalen Höhepunkte des Tages: Fotos auf Instagram mit der Reihe von Rettungswagen und darüber #prayforMuenster. Dabei laufen bei ihr sekündlich neue Meldungen aufs Handy, es pingt in einer Tour. 

Der Mann schaut im Fernsehen zum Abschluss des Tages ab 22 Uhr die Zusammenschau auf Phoenix, um noch einmal im Gesamtbild Eindrücke des Tages und Stellungnahmen der Verantwortlichen zu bekommen. 

Nachklapp: Facebook habe ich von meinem Handy schon lange verbannt. Crisis Response hatte zwischenzeitlich gemeldet, gut 70 meiner Facebook-Freunde seien „noch nicht in Sicherheit“ – zynisch und einfach Unsinn. Ein abendlicher Blick ins Medium über das andere Gerät sagt mir, dass mir nichts entgangen ist. Dort finde ich in meiner persönlichen Blase viele Kerzen und schwarze Stadtprofile, die Trauer und Betroffenheit ausdrücken, aber wenig Informatives. 

Die furchtbaren Geschehnisse am Kiepenkerl an diesem ansonsten zauberhaften Frühlingssamstag sind eigentlich schnell erzählt. Aber natürlich schlagen sie hohe Wellen, weil es für viele unfassbar ist, dass Terror möglicherweise auch seinen Weg in diese beschauliche Stadt finden kann. 

Am schlauesten hat es eigentlich Ralf Heimann formuliert, der bereits eine Stunde nach dem Vorfall schrieb: "Ich glaube, das Beste, was man jetzt machen kann, ist: sich bei Facebook und Twitter abmelden - und heute Abend nochmal in die Nachrichten schauen."

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